Religion im Transit. Transformationsprozesse im Kontext von Migration und Religion

Religion im Transit. Transformationsprozesse im Kontext von Migration und Religion

Organisatoren
Zentrum für Religionspädagogische Bildungsforschung (ZRB), Friedrich-Schiller-Universität Jena
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.11.2019 - 12.11.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Katharina Breidenbach / Gisela Mettele, Historisches Institution, Friedrich-Schiller-Universität Jena; Katharina Muth / Michael Wermke, Theologische Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Erforschung der vielschichtigen und ambivalenten Wechselwirkungen, die mit den Phänomenen Migration und Religion verbunden sind, ist Teil eines hoch aktuellen und zentralen Forschungsgebiets, welches wesentlich zum Verständnis von Globalisierungsprozessen und Integrationsmustern beitragen kann. Einen Bezugspunkt stellte die aktuelle, interdisziplinäre Migrationsforschung dar, die mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen verschiedene Gründe, Ursachen, Netzwerke und Handlungsräume von Migrationen erfasst. Diese wurden hinsichtlich ihrer Wechselwirkungen mit religiösen Transformationsprozessen innerhalb der drei Sektionen Transiträume, Diaspora und Identität analysiert. Jede Sektion wurde durch drei Vorträge sowie Diskussionsmöglichkeiten unter den Teilnehmer/innen und Referent/innen strukturiert.

In der ersten Sektion Transiträume wurden Studien zu religiös motivierten Migrationen in der Frühen Neuzeit vorgestellt. GISELA METTELE (Jena) befasste sich mit unterschiedlichen Glaubenserfahrungen Herrnhuter Christ/innen während ihrer langen und gefährlichen interkontinentalen Seereisen. Um die eigene religiöse Identität gegenüber einer ‚Zwangsökumene‘ an Bord zu wahren, erwarb die Brüdergemeine eine eigene kleine Schiffsflotte. Das Schiff auf hoher See entwickelte sich zu einem Idealbild für das pilgernde Volk Gottes und das Meer zum Ort der Glaubensanfechtung. Dem schloss sich der Vortrag von KATHARINA BREIDENBACH (Jena) an. Anhand der Berichte der Reisekommissare und Pastoren, die ab den 1730er-Jahren die Salzburger Emigranten nach Nordamerika begleiteten, zeigte sie auf, welche Bedeutung personelle Strukturen für frühneuzeitliche Migrationen hatten und in welche Machtkonstellationen und Netzwerke diese Personen eingebunden waren. ALEXANDER SCHUNKA (Berlin) richtete in seinem Vortrag sein Augenmerk auf ökonomische Aspekte der Migration. Schunka hinterfragte bekannte Narrative und zeigte auf, wie auch die teils prekäre Wirtschaftssituation konfessioneller Migranten zu einer Stimulation bestimmter Migrationsmotive führte.

In der Sektion Diaspora befasste sich SUSANNE LACHENICHT (Bayreuth) mit der Verbindung von „Nationsbildungen“ und Diasporen in der Frühen Neuzeit. Sie verdeutlichte eindringlich an den Beispielen der Migrationen der Hugenotten und sephardischen Juden, wie durch Selbst- sowie Fremdzuschreibungen religiöse „Nationen“ imaginiert wurden. Zudem zeigte sie, wie ihre Überlegungen unseren Blick auf aktuelle Ereignisse beeinflussen können. Im zweiten Teil stellte WOLFGANG BREUL (Mainz) die Konzeption der Herrnhuter Diaspora vor. Er machte deutlich, wie die Herrnhuter sich den Begriff Diaspora aneigneten und wie dieser mit der Mobilität der Gemeine verbunden war. Er arbeitete heraus, wie sich die Herrnhutische Diaspora im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelte und welcher Umgang mit anderen Konfessionen gepflegt wurde. HARTMUT LEHMANN (Kiel) zeichnete am Beispiel der Altlutheraner in Australien die Bildung einer religiösen Diaspora im 19. Jahrhundert nach, welche sich zunächst von ihren deutschen Glaubensgenossen und auch von der australischen Gesellschaft abgrenzte. Er zeigt die religiösen Spannungen innerhalb der Diaspora auf und wie sich die australischen Altlutheraner später in das internationale Netzwerk der Diaspora einfügten.

In der Sektion Identität betrachtete BENEDIKT KRANEMANN (Erfurt) die Bedeutung von Gottesdienst und Frömmigkeitspraktiken für Migranten. Kranemann arbeitete darin an konkreten Beispielen heraus, wie sich Liturgie und Frömmigkeitspraktiken durch Migrationen verändern und verselbstständigen, dass sie jedoch zudem ein Träger für die Verbundenheit zum Herkunftsland darstellen und dementsprechend eine zentrale Rolle bei der Identitätssicherung und -entwicklung spielen. In Bezug auf die Weitergabe der Traditionen an die nächste Generation erscheint dabei mit Jonathan Y. Tan entscheidend, dass traditionelle Riten statt einer fixen Weitergabe in lebendigen Prozessen weitergegeben werden. Anderenfalls können, so Kranemann, problematische Machtverhältnisse ins Aufnahmeland übertragen und so zu einem Integrationshemmnis werden. MICHAEL WERMKE (Jena) nahm die Suche nach dem jüdischen Pädagogen Kurt Silberpfennig auf, der die Flucht Jugendlicher aus NS-Deutschland organisierte und später selbst deportiert und ermordert wurde. Wermke zeigte auf, was der Umstand für das Selbstverständnis der Hinterbliebenen bedeutet, dass sie in den sog. Wiedergutmachungsverfahren darauf angewiesen sind, die Verbrechen nachzuweisen, um eine Anerkennung des erlebten Unrechts zu erhalten. Offensichtlich wurde die Abhängigkeit von behördlicher Macht, die bis in die Gegenwart Realität ist. SULE DURSUN (Wien) stellte eine empirische Untersuchung vor, aus der hervorgeht, dass und wie sich Gottesvorstellungen und religiöse Praktiken wie bspw. das Tragen des Kopftuches im Verlauf eines Studiums an der Universität in Wien durch die Adaption religiöser Werte und kultureller Haltungen der Mehrheitsgesellschaft verändern. Zentral war dabei der Befund, dass Adaptionen der Lebensweisen des Herkunftslandes nicht leichtfertig vollzogen, sondern in vielen Fällen reflektiert und mittels individueller Erklärungs- und Begründungsmuster in das Weltbild der Frauen eingepasst wurden.

Während die Vorträge und Diskurse der drei Sektionen in erster Linie konkrete Migrant/innengruppen in den Blick nahmen, stellte die von ALEXANDER-KENNETH NAGEL (Göttingen) gehaltene Keynote die Frage nach Transformationsprozessen im Kontext von Religion und Migration aus kultursoziologischer Perspektive auf der Metaebene und beleuchtet aktuelle Perspektiven innerhalb der Globalisierungsprozesse. Dabei arbeitete Nagel die bereits im Titel angedeuteten drei Reaktionen auf Migrationserfahrungen heraus, welche durch intra-, inter- oder außerreligiöse Antriebskräfte gefördert werden können: Erstens können Migrationserfahrungen zu einer Intensivierung und Radikalisierung religiöser Überzeugungen führen. Religion kann sich in diesem Fall auch zu einen „Schutz- und Schonraum“ oder auch als „Identitätsanker“ entwickeln, der es erst ermöglicht, sich strukturell zu integrieren. Zweitens ist von dieser Reaktion die Innovation religiöser Einstellungen zu unterscheiden, die eintritt, wenn religiöse Überzeugungen an die neuen Lebenskontexte angepasst werden. Drittens stellt nach Nagel die Privatisierung oder Relativierung religiöser Haltungen eine weitere Reaktion dar. Dies könne einerseits durch traumatische Erfahrungen bedingt sein, welche als Theodizee-Momente erlebt und gedeutet werden, andererseits durch die Erfahrung der eigenen Sprachunfähigkeit in Bezug auf die eigene Religion, die durch Anfragen aus der Einwanderergesellschaft erst präsent werden kann. In aktuellen gesellschaftlichen Diskursen, so Nagel, liegt ein Übergewicht auf dem Fokus der religiösen Intensivierungstendenzen, während die Optionen der Relativierung und Innovation häufig ausgeblendet werden.

In einer abschließenden Podiumsdiskussion wurden drei rückblickende Impulse von DANIEL CYRANKA (Halle), JÖRG SEILER (Erfurt) und FRIEDEMANN SCHMOLL (Jena) gegeben, welche Anknüpfungspunkte für alle Teilnehmenden boten, ihre Sichtweisen in die Diskussion einzubringen. In vergleichender Perspektive wurden etwa die Rolle von Brokern und das Verhältnis von Transformation und Transformationsabwehr im Migrationsprozess diskutiert. Ebenso wurde nach den diskursiven Konstruktionen von religiösen Zugehörigkeiten in den unterschiedlichen Migrationskontexten gefragt und Hybridisierungen, Homogenisierung aber auch Stereotypisierungen migrantischer Identitäten thematisiert. Besonders hervorgehoben wurde dabei die Bedeutung der Kategorie Geschlecht bei der Analyse von Migrationsprozessen.

Die Tagung ist ein gelungenes Beispiel für interdisziplinäre Zusammenarbeit: Religionspädagogische, kirchen- und profangeschichtliche, kultur- und religionswissenschaftliche Forschung wurden in einen fruchtbaren Dialog miteinander gebracht. Dabei wurde ein Zusammenhang zwischen historischer, systematischer und empirischer Forschung erfolgreich hergestellt. Die Wechselwirkungen der Phänomene Religion und Migration wurden anhand exemplarischer Zugänge (mit den Schwerpunkten 18. und 20./21. Jahrhundert) betrachtet. Aus den Rückmeldungen der Referent/innen und Teilnehmer/innen wurde deutlich, dass die Tagung als gegenseitige Bereicherungen wahrgenommen wurde und zur Ausschärfung der eigenen Forschungsfragen und methodischen Erschließungswege beigetragen hat. Darüber hinaus wurde die Relevanz historischer Forschung für Gegenwartsfragen in den Fragestellungen und Diskursen auf besondere Weise deutlich.

Konferenzübersicht:

Keynote

Alexander-Kenneth Nagel (Göttingen): Migration und religiöser Wandel: Eskalation, Innovation oder Traditionsbruch?

Transiträume. Grenzüberschreitende Zwischenräume auf dem Weg

Gisela Mettele (Jena): Gemeinde auf hoher See: Atlantiküberfahrten der Herrnhuter Brüdergemeine im 18. Jahrhundert

Katharina Breidenbach (Jena): Reisekommissare und Pastoren: Personelle Strukturen atlantischer Migration im 18. Jahrhundert

Alexander Schunka (Berlin): Flucht finanzieren. Zur ökonomischen Dimension frühneuzeitlicher Migrationen in europäischer und transatlantischer Perspektive

Diaspora. Transnationale Sozialräume und Netzwerke religiöser Communities

Susanne Lachenicht (Bayreuth): Frühneuzeitliche Diasporen und „Nationsbildung“

Wolfgang Breul (Mainz): Religiöse Pluralität und Identität im Konzept der Herrnhuter Diaspora

Hartmut Lehmann (Kiel): „Die Altlutheraner im Hinterland von Adelaide“

Identität. Religiöse Identitätsbildung und -veränderungen durch Migrationserfahrungen

Benedikt Kranemann (Erfurt): „wenn wir in der Ferne unserer irdischen Heimat gedenken…“ — Die Bedeutung von Gottesdienst und Frömmigkeitspraktiken für Migranten

Michael Wermke (Jena): Anschreiben gegen das Vergessen - Erinnerungen an den Lehrer, Jugendfunktionär und Fluchthelfer Kurt Silberpfennig

Sule Dursun (Wien): Modifikationen religiöser Identitäten im Migrationskontext: Junge Frauen türkischer Herkunft mit Universitätsabschluss in Wien

Zusammenführende Diskurslinien
Moderation: Gisela Mettele (Jena)

Daniel Cyranka (Halle) / Friedemann Schmoll (Jena) / Jörg Seiler (Erfurt)


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Deutsch
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